Miriam hört das Gras lachen

“Mir ist kalt!”, rief der Lavendel von der Fensterbank.

Miriam überhörte ihn geflissentlich. Auf weitere Hirngespinste hatte sie heute nun wirklich keine Lust mehr. Schlimm genug, dass die Pappel vor dem Dreifamilienhaus, in dem Miriam lebte, plötzlich fröhlich vor sich hin plapperte, quasi pappelte. Man sollte doch der Meinung sein, dass sich Bäume im Winter brav in ihre Rinde verkrochen und ihre Energie für den Frühling aufsparten. Aber nein! Auch die windschiefe Kiefer, die sich drüben im Park über den kleinen Kiesweg beugte, flüsterte seit heute Morgen ihre knarzenden, harzigen Sorgen in das Ohr ihrer Passanten. Oder nur in Miriams? Womöglich war sie die einzige, die sich beim Spazierengehen eine Litanei über Wurzelschmerzen und Rindenrisse hatte anhören müssen. Sie war aller Wahrscheinlichkeit nach vollkommen plemplem.

Miriam seufzte und blickte aus dem Fenster. Sie mochte ihren Lavendel eigentlich. Wieso musste er das kaputtmachen, indem er drauflosnölte? “Es ist überhaupt nicht kalt, Herr Lavendel”, entgegnete sie ihm und kam sich im gleichen Moment noch plemplemer vor. Plemplemer? Sagte man das so? Genervt runzelte Miriam die Stirn. Diese ganze Angelegenheit war außerordentlich lästig. Vielleicht träumte sie das alles bloß? Miriam kniff sich in den Unterarm. “Au!”, entfuhr es ihr.

“Kalt!”, entfuhr es dem Lavendel.

“Du bist doch angeblich winterfest! Da sollten dir doch läppische 2 Grad nichts ausmachen”, sagte Miriam.

“Hier oben auf deiner Fensterbank ist es ganz schrecklich windig! Immerhin wohnst du im zweiten Stock!”, sprach der Lavendel.

Miriam öffnete das Fenster, wobei ihr auffiel, dass sie den Lavendel erstaunlich gut durch die Fensterscheibe verstanden hatte. Ein weiteres Indiz dafür, dass sie nicht mehr alle Blumentöpfe im Regal hatte. Übrigens eine durchaus anerkannte Nebenwirkung des Kinderbuchschreibens. Ein bisschen plemplem muss man da schon sein, damit die irrwitzigen, klitzekleinen Geschichtenfitzelchen ihren Weg in den Kopf finden. Das wusste Miriam. Aber trotzdem war ihr das Grünzeug heute viel zu gesprächig. Das ganze Pappelgeplapper, Kiefergeknirsche und Lavendellamentieren machte sie ganz wuschig zwischen den Ohren.

“Herr Lavendel, ich muss Sie leider in einen verlängerten Urlaub schicken. Wir sehen uns im Frühjahr!”
Mit diesen Worten packte Miriam den Lavendeltopf und warf ihn hinunter in den Garten, wo er auf dem Komposthaufen landete. Da musste das Gras, das die Unterhaltung mitangehört hatte, vollhalm loslachen und Miriam blieb nichts anderes übrig, als rasch das Fenster zu schließen.

© 2012 Julia Kaldenhoff